Sonntag, 9. November 2014

Wenn Werte relativ werden

Wir leben ja glücklicherweise in einer liberalen Zeit. In einer Zeit, in der man lebt und Andere leben lässt. Jedoch treibt diese grundsätzlich ja begrüßenswerte Toleranz bisweilen seltsame Blüten. Es wird nämlich immer wieder der Gedanke laut, dass Werte und Normen, Regeln des Zusammenlebens und Vorstellungen davon, was Gut sein soll, ja "relativ" seien. Uns mag die Beschneidung von Jungen falsch vorkommen, aber in anderen Kulturen ist dies das größte Geschenk, was man einem Neugeborenen machen kann. In Europa ist es selbstverständlich, dass Mädchen zur Schule gehen, aber in Afghanistan sieht man das eben anders. Wer hat gesagt, dass unsere Werteordnung anderen überlegen ist? Ist es nicht Hybris, Arroganz und falsches Überlegenheitsgefühl, und darf man "unsere" Wertvorstellungen anderen Völkern aufzwingen?

Diese Argumentation klingt freiheitlich, tolerant und bescheiden, erhebt man sich doch nicht selbstgerecht über andere Nationen und deren ethische Regeln; sie ist daher ziemlich beliebt. Bekannt ist sie unter dem Namen "moralischer Relativismus". Und sie ist völlig falsch.

Warum denn? - Aus mehreren Gründen.

Der moralische Relativist sagt im Grunde Folgendes: Ob eine Handlung richtig ist oder falsch, darf man nicht objektiv und weltumfassend beurteilen; man kann sie nur an der Werteordnung des jeweiligen Kulturkreises messen. Man darf also nicht der Meinung sein, die Handlung X sei "falsch", sondern nur "falsch in Bezug auf die Normen der jeweiligen Kultur". Wie scherzhaft über die Physik angemerkt wird, soll daher auch in der Moral nach dieser Ansicht "alles relativ" sein.

Probleme bekommt man dabei ziemlich schnell: Ist nämlich die Bezugsgruppe für die Beurteilung einer Handlung relevant, fragt es sich, wie man diese Bezugsgruppe ermittelt. Ist das der jeweilige Staat? Die Hauptstadt des Staates? Die ethnische Minderheit innerhalb des Staates, zu der der Handelnde gehört? Ein großer Clan innerhalb einer ethnischen Minderheit eines Staates? Die Umgrenzung der Gruppe, nach deren Maßstäben man die Handlung beurteilen soll, ist völlig beliebig.

Außerdem: Dass es jetzt verschiedene und teilweise diametral einander entgegengesetzte Weltanschauungen gibt, liegt ja nicht daran, dass die Vertreter der jeweiligen Kulturen vertieft über das gute Leben und eine gerechte Gesellschaft nachgedacht hätten. Meistens ist es so, dass man in eine Kultur hineingeboren wird und die dort bestehenden Bräuche und Normen gedankenlos übernimmt und sie auf diese Weise festigt. Auch zwingen oft die Mächtigen das "Fußvolk" schlicht dazu, nach ihren Regeln zu spielen. Schon deswegen kann bei der Frage, was richtig ist und was falsch, nicht auf die Vielfalt der Kulturen verwiesen werden. Deren Werte können nicht alle gleichzeitig richtig sein, sondern eher beliebig.

Am schwersten wiegt der nächste Einwand: Der moralische Relativist trifft selbst überhaupt keine wertende Aussage. Es ist völlig sinnlos, einen solchen Menschen danach zu fragen, was gut ist und was nicht. Er ist durch die eigene Theorie darauf beschränkt festzustellen, ob die in Frage stehende Handlung zu den Bräuchen der Region passt oder nicht. Damit ist dies aber eine rein beschreibende Aussage, ohne eigene ethische Stellungnahme. So wie ein Insektenforscher Listen und Kataloge darüber erstellen kann, welche Insekten hier und dort auf welche Art und Weise leben, erstellt der moralische Relativist Datenbanken darüber, was wo üblich ist. Irgendeine ethische Stellungnahme, eine Aussage über das Gute und Richtige, ist hier in keiner Weise vorhanden. Ein moralischer Relativist disqualifiziert sich damit im Grunde für jede Diskussion über Werte und Normen. Er hat schlicht keine, da er sich darauf beschränkt, bereits vorhandene Werteordnungen zu beschreiben. Urteile über richtig und falsch sind für ihn nichts Anderes als Folklore.

Die scheinbare Attraktivität eines moralischen Relativismus liegt in seiner Zurückhaltung, Urteile über andere Menschen zu fällen, und ihnen eigene Wertvorstellungen aufzuzwingen. Der Gedanke ist auch nicht verkehrt, denn oft haben Herrscher, die eine absolute Moral proklamiert haben, diese mit Gewalt durchgesetzt. Der Relativismus schießt aber, wie gerade gezeigt, deutlich über das Ziel hinaus. Es gibt selbstverständlich nur eine richtige Beurteilung von Gut und Schlecht, global und für alle gültig. Traditionen und Bräuche sollen dabei keinesfalls abgeschafft werden, da die meisten von Ihnen völlig wertungsfrei sind. Ein Regentanz, eine Hochzeitszeremonie, ein Nationalgericht, all das berührt nicht die Fragen der Ethik. Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Freiheit von äußeren Zwängen schon. Diese Dinge sind rational begründbar und deshalb global, objektiv und kulturunabhängig gültig. Hier ist nichts "relativ". Davon gilt es nun andere zu überzeugen.