Als Einwand gegen die hier vorgebrachten Argumente gegen den Glauben an den biblischen Gott wird oft erwidert, dass solch eine Denkweise die Heilige(n) Schrift(en) zu wörtlich nehme. Eigentlich habe sich die Religion seit der Bronzezeit ja weiterentwickelt, deshalb müsse man den tieferen Sinn der Texte durch Auslegung ermitteln, und nicht gegen die "Karikatur der Religion" (Francis Collins) argumentieren.
Karikatur der Religion? Na dann wollen wir mal richtig karikieren.
Man stelle sich den folgenden Monolog eines religiösen Eiferes vor:
"Werte Gemeinde! Ich will Sie für eine neue Religion begeistern! Unser aller Messias und Retterin wird von nun an das Rotkäppchen, unsere Heilige Schrift diejenige der Propheten Grimm sein.
Was höre ich da - es soll nur ein Märchen sein? Weit gefehlt, hierin stecken zahllose ethische Botschaften! So steht das rote Käppchen natürlich und offensichtlich für die Menstruation und damit für die geschlechtliche Reife der jungen Damen, die sich nach Erlangung solcher der Unsitte mit Männern (hier: Wölfen) hingeben, was - wie die Allegorie des Gefressenwerdens zeigt - ins Verderben führt. Ein Hauptpostulat unserer Religion wird daher die Reinheit und Jungfräulichkeit der Damen sein - bis zur Ehe selbstverständlich!
Ein weiterer unmissverständlicher moralischer Appell ist der nach Hilfe für die alten und schwachen - das Rotkäppchen zeigt es uns vor, indem es der Großmutter helfen will. Daraus können wir ein allgemeines Liebes- und Aufopferungsgebot für Deinen Nächsten ableiten.
Ferner führt uns die Heilige Schrift eindeutig vor die Augen, dass es ein Leben nach dem Tod gibt - man denke nur an das Rotkäppchen und die Großmutter, die am Ende wie durch ein Wunder auferstehen. Das gibt uns gleich den Beweis, dass es eine unsterbliche Seele gibt, denn ohne sie wäre so etwas nicht möglich! Gleichzeitig sehen wir aber, dass nur gute und sittsame Menschen nach dem Tod auferstehen werden - der Wolf tut es nämlich nicht!
Generell steht über der gesamten Geschichte das große Thema der Gerechtigkeit - die Idee, dass am Ende das Gute siegen, das Böse untergehen und jedem nach seinen Verdiensten gegeben wird. Auch soll die Heilige Schrift uns aufzeigen, dass hinter der schönen Oberfläche oft eine hässliche Gefahr lauert, und wir daher Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen, sondern in ihre Seele hineinschauen müssen!
Schlussendlich enthält unsere - wie wir gesehen haben, alle Lebensbereiche umfassende - Heilige Schrift auch eine gute Portion Hoffnung für die Zukunft: So wie in der Nacht die Dunkelheit die Sonne verschlingt, verschlang der Wolf das Rotkäppchen. Und so wie die Sonne am nächsten Tagt wieder aufgeht, entsprang das Rotkäppchen - deren rotes Käppchen ganz klar auch ein Symbol ist für die Sonne - fröhlich und unversehrt dem Bauch des Wolfes.
Alles in allem - eine neue und moderne Religion der Hoffnung, Liebe, Gerechtigkeit und Tiefsinn - auf dass Rotkäppchen wiederkommt und uns alle errettet, amen!!"
Ihr seht - man kann also mit genügend Fantasie und vor allem mit viel Willen und Herzblut aus jeder noch so blöden Geschichte Gutes, Wichtiges - und dem "modernen" Christentum Ähnliches herausholen. Subtrahiert man die "Interpretation", bleibt sowohl vom Märchen vom Rotkäppchen, als auch von der Bibel genau dasselbe.
Freitag, 18. November 2011
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