Im Mai 2012 urteilte ein Kölner Gericht, Eltern dürften ihre Söhne nicht beschneiden, bevor diese nicht alt genug wären, selbst zu entscheiden. Daraufhin erhob sich ein Tornado der Entrüstung seitens vieler jüdischer und muslimischer Organisationen. Verständnis- und Ratlosigkeit machten sich breit, hat diese jahrtausendealte Praxis doch bisher so gut wie keinen öffentlichen Widerspruch erfahren. Während der Publizist Rafael Seligmann das Urteil abwertend als "Provinzposse" bezeichnete, fragten andere, ob Juden in Deutschland noch gewollt seien, und erspähten darin gar den schwersten Angriff auf jüdisches Leben in Deutschland seit dem Holocaust. Auf der anderen Seite sprachen einige wiederum von "barbarischen" Praktiken und einer "Genitalverstümmelung", die eine Beschneidung ja darstelle.
All diese Kraftausdrücke sind natürlich verfehlt. Wie in jeder politischen Diskussion, die ethische Aspekte beinhaltet, sind vielen Sprechern und Schreibern recht schnell alle Sicherungen durchgebrannt, und die Stimmung heizte sich rasch auf. Einerseits ist die Beschneidung von Jungen keine Verstümmelung, und es gibt mit Sicherheit schwerer wiegende Eingriffe in das Kindeswohl, derer sich die Gemeinschaft dringend annehmen müsste. Trotzdem ist sie ethisch verkehrt, und dies ist ein recht eindeutiger Befund. Entwirren wir also das Knäuel emotional aufgeladener Argumente und denken sachlich:
Am Anfang steht die intuitive Erkenntnis, dass in einem geordneten Gemeinwesen niemand einem anderen ungefragt Körperteile abschneiden darf. Darauf können wir uns alle, denke ich, einigen. Andererseits gilt dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt: Einem schwer verletzten Bewusstlosen darf ein Chirurg beispielsweise ein Bein amputieren, ohne ihn zu fragen, wenn es dringend ist. Einen Geiselnehmer darf die Polizei verletzen, wenn er das Leben anderer bedroht. Wir müssen uns also fragen, ob es Rechtfertigungen für diesen Eingriff gibt.
Klar dürfte sofort sein, dass die Religionsfreiheit hier nicht weiterhilft. Meine Religion darf möglicherweise in Saudi-Arabien oder in Pakistan ein Grund sein, den Körper anderer Personen, die diese Religion nicht teilen, zu verletzen. In einer freiheitlichen Gesellschaft geht das nicht: "In einem freien Land", zitiert Prof. Reinhard Merkel ein amerikanisches Sprichwort, "endet das Recht, deinen Arm zu schwingen, dort, wo die Nase des Anderen beginnt." Ich darf meine Religion ausüben, wie ich will, muss aber Andere davon verschont lassen.
Schwieriger wird es mit dem elterlichen Erziehungsrecht. Eltern dürfen und müssen ihre Kinder erziehen und für sie sorgen. Daher dürfen sie ihrem Kind im Prinzip auch mehr antun, als ein Erwachsener einem anderen Erwachsenen antun dürfte. Aber - und hier fangen schon die Missverständnisse an - Kinder sind eben kein "Eigentum" der Eltern, mit dem sie machen können, was sie wollen. Das Erziehungsrecht ist keine gottgleiche Befugnis. Die Eltern dürfen dem Kind im Rahmen des "Erziehungsrechts" nicht den Kopf kahl rasieren, nur weil sie gerade darauf Lust haben. Das Erziehungsrecht dient einzig und allein dem Kind - und der Staat hält sich aus der Erziehung im Regelfall nur deshalb heraus, weil die Eltern das Kind besser kennen - nicht aber weil das Kind ihr "Spielzeug" ist, mit dem sie nach Belieben umspringen dürfen. So wie ein Kassenwart eines Vereins die Finanzen verwaltet, verwalten sie die Interessen ihres Kindes - und so wie es dem Kassenwart verboten ist, Unfug mit den ihm anvertrauten Ressourcen zu treiben, ist es den Eltern genauso verboten. Ein Kind ist eben keine Puppe, sondern ein vollwertiger Mensch in Mini-Version.
Und was ist nun mit der Beschneidung? Sie muss nach dem oben Gesagten dem Kindeswohl dienen. Die Eltern können nicht einfach sagen "Wir machen es halt", sondern sie müssen begründen, warum die Prozedur dem Kind gut tut. Da der Schnitt weh tut, Komplikationen nach sich ziehen kann und - was das Wichtigste ist - einen großen Anteil (bis zu 20.000 erogene Nervenendungen) des sexuell empfindlichen Gewebes wegtrennt und damit das sexuelle Erleben nachhaltig und unwiderruflich beeinträchtigt (auch bei Frauen), ist der Eingriff von einiger Relevanz und braucht eine Rechtfertigung.
Und insoweit können Eltern nur zwei Argumente vorbringen: Die Aufnahme der Kinder in die soziale Gemeinschaft und gesundheitliche Vorteile. Das erste Argument betrifft nur die wenigen streng religiösen Familien, die in einem Milieu leben, wo das Ritual tatsächlich zum Ausgrenzungskriterium werden kann. Die meisten beschneiden ihre Kinder aber nur aus Tradition, Trägheit oder "weil es sich halt so gehört". Außerdem ist es ja nicht so, dass Kinder einander dauernd in die Hose schauen, um die Zugehörigkeit zur eigenen Religion zu ergründen oder die Freundschaft zu überprüfen. Die gesundheitlichen Vorteile - das zweite Argument - wiederum mögen zwar statistisch belegbar sein. In dieser Richtung spricht sich auch die (weltweit umstrittene) Empfehlung der amerikanischen Ärzteorganisation AAP aus. Jedoch ist es ein sichtbarer Fehlschluss, sich (wie das "Beschneidungsgesetz" in seiner Begründung) auf diese Empfehlung zu stützen: Denn die Ärzte können nur sagen, ob aus medizinischer Sicht die Beschneidung sinnvoll ist, d.h. ob die Vorteile die Nachteile überwiegen. Ihre Frage ist also: Kann man die Beschneidung empfehlen, wenn jemand sie machen will? Wir müssen uns aber bei der Lösung des ethischen Dilemmas etwas völlig Anderes fragen: Da die Prozedur ein wehrloses nicht einwilligungsfähiges Kind betrifft, muss sie denn unbedingt sein oder reichen mildere Maßnahmen, um denselben Nutzen zu erzielen? Und die Antwort ist ganz klar: Sie muss nicht sein. Denn alle Vorteile kann man durch simple Hygiene bzw. das Benutzen von Kondomen genauso gut erreichen. Die angeblichen Segen der Beschneidung werden "zu teuer erkauft". Genau wie der Kassenwart die Ressourcen seines Vereins (auch zu einem guten Zweck) nicht sinnlos verschleudern darf, dürfen es die Eltern als Wächter des Kindeswohls ebenfalls nicht. Sie sind ethisch verpflichtet, ein möglichst mildes Mittel zu wählen, da das Kind vollkommen in ihrer Gewalt ist.
So viel (und nicht mehr) ist zur ethischen Bewertung der Zwangsbeschneidung von Kindern zu sagen. Sie ist schlicht unzulässig, und genauso makelbehaftet ist daher das hastig zusammengezimmerte Gesetz.
Sonntag, 26. Mai 2013
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