Sie ist in gewisser Hinsicht wie das Ideal der großen romantischen Liebe: Man sucht sie ständig, aber man findet sie nicht, sondern allenfalls grobe Annäherungen. Oft findet man sich mit dem ab, was man hat, und trotzdem schwebt sie wie eine halbdurchsichtige Fata Morgana seit Generationen vor uns, und wir suchen sie fortwährend, denn sie und die Suche nach ihr bereichert unser Leben und verleiht ihm einen Hauch einer Bedeutung. Viele Menschen sind ihretwegen verrückt geworden, begingen Selbstmord oder wurden umgebracht. Jedoch ist sie keine femme fatale, ja nicht einmal eine Person; sie ist - die Wahrheit.
Der Drang, die Welt zu verstehen und herauszufinden, wie sie funktioniert, ist den Menschen immanent - schon im Kindesalter krabbeln wir neugierig herum und saugen alles in uns auf, was uns unsere Umgebung begreiflich macht. Das tiefere Verständnis der Welt ist der Evolutionsvorteil, der es uns, die wir weder besonders schnell noch besonders kräftig oder geschickt sind, erlaubt hat zu überleben. Andererseits haben Philosophen schon früh erkannt, dass wir die Wahrheit über die Welt, wie sie "in Wirklichkeit" ist, nie bis zum Ende verstehen werden.
Denn einerseits sind wir im Erfassen der Dinge auf unsere Empfindungen angewiesen. Wir sehen ja nicht wirklich das, was ein Gegenstand "ist", sondern nur ein Konstrukt unseres Gehirns aufgrund der Sinnesreize. Schauen wir zum Beispiel auf einen roten Apfel, müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass der Apfel nicht wirklich rot "ist" - wir sehen ihn nur rot, weil unser Gehirn die von der Netzhaut eingehenden Daten über elektromagnetische Strahlung mit einer Wellenlänge von etwa 640 nm – 780 nm als rot interpretiert. Der Witz ist, dass ein roter Apfel eigentlich alles mögliche ist, nur nicht rot - die roten Wellenlängen werden ja vom Apfel gerade zurückgeworfen (und gelangen in unser Auge). Wie dieselbe Wellenlänge von einem Kaninchen oder einem Marsmenschen interpretiert wird, und ob deren Konzept von "rot" mit unserem übereinstimmt, wissen wir nicht - beide dürften aber jeweils ein ziemlich anderes Modell der "Wahrheit" über den roten Apfel bauen.
Auch intellektuell sind unserer Erkenntnis Grenzen gesetzt - wir Menschen sind einfach nicht schlau genug, um "die Wahrheit" über die Welt zu erfahren. Auch wenn es angesichts von durch uns hervorgebrachten Supercomputern oder Mars-Rovern zunächst blöd klingt - die Beschaffenheit der Welt ist mit Sicherheit zu kompliziert für uns. Oder kannst Du mir beweisen, dass wir alle nicht nur Figuren sind in einer riesigen Computersimulation, die nach unseren Naturgesetzen, wie wir sie kennen, funktioniert? Was uns übrig bleibt - und was die Aufgabe der Wissenschaft ist - ist es, uns wie bei der Wahrnehmung des roten Apfels ein Modell zu konstruieren, das zu der Wirklichkeit passt. Sie nicht beschreibt, darstellt, erklärt, sondern passt, ihr nicht widerspricht. Ein Polizeihund wird nie verstehen, warum man ihn trainiert, Drogen in Kofferräumen zu erschnüffeln, aber es wird ihm klar - wenn er es macht, gibt's ein Leckerli und ein paar Streicheleinheiten durch das Herrchen. Er durchdringt die Kompliziertheit der Welt nicht, aber er lernt, damit umzugehen, so dass es ihm gut geht. Und in dieser Position sind wir Menschen letztlich auch. Die Naturgesetze, die wir entdecken, sind nichts anderes als das Gesetz des Hundes, dass es für einen Drogenfund ein Pfund Chappi gibt.
Wahrheit ist also immer subjektiv, eine Gebrauchsanweisung für die Welt, mit der wir durch das Wirrwarr des Seins navigieren. Dabei ist es egal, ob jemand mit einem besseren Kenntnisstand (hoch entwickelte andere Zivilisation etc.) unser Modell für überholt hält - solange es funktioniert, ist es unsere "Wahrheit". Ein gutes Beispiel dafür ist das Placebo. Wenn das Modell in unserem Kopf uns eine Besserung verschafft - dann wird es eben so sein; das ist dann unsere persönliche Wahrheit über "die Wirklichkeit" - auch wenn wir "objektiv" nur ein Stück weißen Zucker in Tablettenform gegessen haben. In einem berühmten Versuch "dachten" Vögel, dass wenn sie eine bestimmte Bewegung machen, der Automat in ihrem Käfig ihnen Futter spendiert - tatsächlich waren dem Automaten ihre Tänze egal, aber satt waren sie am Ende trotzdem. Ihre Wahrheit war also anders als die der Forscher, die über die komischen Verrenkungen der Vögel lachten, beide Ansichten waren aber gleichberechtigt. Und deshalb kann die Relativitätstheorie "objektiv" vielleicht auf eine ganz andere Weise die Welt beschreiben, als wir denken - solange sie funktioniert, ist sie unser brauchbares Placebo, unsere "Wahrheit", die wir nun mal nicht besser kennen können.
Aber trotzdem fortwährend weiter suchen werden.
Samstag, 13. Juni 2009
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