Die heutigen Versionen des Christentums und Judentums sind im Vergleich zu ihrem barbarischen und gewalttätigen Ursprung schon viel zahmer geworden; auch der Islam zeigt im Laufe der letzten Zeit vorsichtige Anzeichen für Öffnung und Liberalisierung. Die großen Religionen haben im Laufe der Jahrtausende insgesamt einen mehr oder weniger deutlichen Wandel durchgemacht. Nimmt man einen durchschnittlichen Pfarrer von nebenan und vergleicht seine Ansichten mit den religiösen Schriften Gläubiger aus dem 4. Jahrhundert, so wird sein Christentum uns offen, tolerant, weich und zuweilen sogar ein bisschen weise entgegentreten.
Wie sind diese Veränderungen zustandegekommen? Hat so eine Offenbarungsreligion die innere Kraft, das Potenzial, aus sich heraus durch Deutung der Heiligen Schriften mit der Zeit besser und fortschrittlicher zu werden, wenn man nur tief und lange genug darüber nachdenkt? So ist zumindest die Position der heutigen Religionsvertreter: Zeigt man ihnen auf die barbarischen Stellen in der Bibel oder der Torah, dann sagen sie, dass man diese Stellen eben durch Auslegung weginterpretieren müsse, so dass am Ende nur das reine Gebot der Liebe und der Hilfe für Bedürftige, die Sinngebung für das Leben und die Menschenwürde verbleiben - eben das, was ein durchschnittlicher aufgeklärter Christ von heute noch an Positionen vertritt. Daher gebe es keinen inhärenten, eingebauten "Fehler" im System, sondern man finde, wenn man nur tief und lange genug darüber sinniert, den "wahren" Gehalt, die "wirkliche" Aussage der jeweiligen Religion. Ehebrecherinnen steinigen - welcher Theologe vertritt heutzutage noch solche Meinungen? Niemand!
Halt.
Hat da jemand gerade "Auslegung" gesagt?
Wer weiß denn besser, wie man Texte auslegt, als die Juristen? Fragen wir sie doch mal, und wir werden sehen, dass eine Religion sich nur von außen, aber nie von innen verändern kann.
Ein Gesetz auslegen bedeutet, den Willen des Gesetzgebers ergründen, fragen, was er denn im Sinne führte, als er das Gesetz schuf. Man schaut dazu in die Gesetzesbegründung, man vergleicht das Gesetz mit ähnlichen Gesetzen, man richtet sich nach dem, was in diesem Fall die Verfassung erlaubt, usw. Niemals ist ein Gesetz allein aus sich heraus auszulegen - denn wenn es so klar formuliert ist, dass keine Zweifel verbleiben, dann braucht man ja gar keine Auslegung. Um zweifelhafte Stellen zu deuten, braucht man also immer eine Referenz von außen: andere Gesetze, parlamentarische Protokolle usw. Der Wortlaut selbst reicht nur in den seltensten - einfachsten - Fällen.
--> Wenn es im Gesetz also etwa heißt: "Verbrecher sollen bestraft werden", die Verfassung (als externe Quelle) aber andererseits die Todesstrafe ausschließt, dann ist dieses Gesetz so auszulegen, dass Verbrecher eben mit allen Strafen außer der Todesstrafe bestraft werden sollen. Ganz einfach.
Was hat das nun mit der Religion zu tun? - Nun ja, wo ist denn bei der Bibel, dem Koran, der Torah die "Referenz von außen"? Die weitere, ebenbürtige (also göttliche) externe Quelle, die uns sagen kann, welche Stellen in der Bibel wir befolgen sollen, und welche nicht? Die gibt es nicht. Die ganze Wissenschaft über die Auslegung ("Exegese") der "heiligen Schriften" ist ausschließlich auf eben diese Schriften angewiesen. Man kann daher, wenn man über eine nicht eindeutige Stelle nachdenkt, nicht kurz mal in eine andere "heilige Schrift" schauen und prüfen, ob dort zu diesem Problem irgendwelche Anweisungen stehen.
--> Wenn es in der Bibel also zunächst heißt: "Wenn ein Mann
dabei ertappt wird, wie er bei einer verheirateten
Frau liegt, dann sollen beide sterben" (Deuteronomium), andererseits aber "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!" (Johannes) - dann was? Welche Stelle ist wichtiger und warum? Soll man nun steinigen oder nicht?
Die ganze Theologie, wie kompliziert und elegant sie sich auch lesen mag, kocht sich selbst ausschließlich im eigenen Saft. Schlaue Menschen schauen in das Buch und überlegen aus dem Nichts heraus, aus reiner Inspiration und emotionaler Eingebung, wie die Stelle X zu verstehen ist, und ob man sie befolgen soll oder nicht. Ist der Auslegende ein anständiger Mensch und / oder lebt er in einer moralisch fortgeschrittenen Zeit, wird er mit einiger Wahrscheinlichkeit im obigen Beispiel die zweite Fundstelle vorziehen, während ein Sadist in der Herrschaftszeit barbarischer Wüstenclans die erste Alternative wählen wird - beide mit der Begründung, die Stelle durch "intensives Nachdenken" und "methodische Exegese" genau so auslegen zu müssen. So leid es mir tut, liebe Verfechter der These, dass Religionen sich angeblich selbst reformieren könnten - es stimmt einfach nicht. Ohne externe Quellen ist jedes Nachdenken über den "wahren" Inhalt der Bibel ein - um ein Zitat des Philosophen Daniel Dennett zu bemühen - "intellektueller Tennis ohne ein Netz".
Nun, aber warum sind dann die Religionen in der heutigen Form so viel sympathischer als damals? Von welcher externen Quelle kam denn der Wandel? Die Antwort ist einfach zu finden - der gesellschaftliche Zeitgeist, die Veränderungen im sozialen Gewebe. Je mehr man sich Menschenrechte und Toleranz erkämpft hat - desto offener wurden wundersamerweise die Glaubensgemeinschaften. Der Einfluss, den die Religionen seit jeher für sich beanspruchen - nämlich die Welt, die Gesellschaft zum Positiven zu verändern, ist genau anders herum. Die Deutung des göttlichen Gesetzes richtet sich nach dem Fortschritt der Menschen, nicht umgekehrt.
Mittwoch, 11. Dezember 2013
Mittwoch, 4. September 2013
Kleine Menschen und große Fragen
Die Abtreibung ist ein seit dem Erstarken der Frauenrechtsbewegung in den siebziger Jahren ein fruchtbarer Boden für hitzige und zuweilen polemische Debatten. Verständlich ist es in jedem Fall, schwingt das Pendel doch zwischen einerseits der (vertretbaren, aber falschen) Meinung, das täglich ein Massenmord an unschuldigen Kindern stattfindet und andererseits der (vertretbaren, aber falschen) Meinung, dass nur die Frau zu entscheiden hat, was mit ihrem Körper stattfindet. Viele Positionen und Argumente werden mit mehr oder weniger Verstand durch die Gegend geworfen. Wie ist es denn am Ende richtig? Nähern wir uns den Thesen an.
Mit der Verschmelzung von Eizelle und Spermium entsteht ein neues Leben. Ein Menschenleben ist aber schützenswert unabhängig von der Körpergröße und Entwicklungsstadium.
Das ist eine plakative Nebelkerze. Unklar ist nämlich, was hier mit dem Begriff "Leben" gemeint ist. Ein Individuum im Sinne von "einem von uns" bestimmt nicht, denn a) die frisch befruchtete Zelle kann sich in zwei oder mehr Embryonen teilen, b) zwei können verschmelzen, c) ein Teil der ersten Generation der Zellen wird gar nicht zum zukünftigen Organismus gehören, sondern zur Plazenta, d) aus dem Befruchtungsvorgang kann statt des Organismus ein Tumor entstehen usw. Wie ich hier schon einmal dargelegt habe, ist die Annahme verkehrt, wonach ich identisch bin mit der damals befruchteten Eizelle. Diese ist eine andere Entität, aus der "ich" dann erwachse. Was mit der Verschmelzung entsteht, ist eine Zelle mit einem DNA-Chromosomensatz, der vorher nicht existierte, mehr nicht. Diese wächst in den kommenden Tagen zu einem Gewebe mit Erbanlagen eines Homo Sapiens heran.
Ein neuer Mensch dagegen entsteht, wenn der Begriff überhaupt irgendeinen Sinn ergeben soll, erst dann wenn Ansätze von Organen und zumindest grundlegende Funktionen des Gehirns vorhanden sind, also einige Wochen später. Dann beginnt tatsächlich so etwas wie ein Lebewesen seine Existenz. Damit ist aber nicht gesagt, dass es denselben moralischen Status hat wie ein Erwachsener.
Ja, welchen Status hat es denn? Es gibt keine moralisch relevante Grenze, ab der das ungeborene Kind magisch einen Quantensprung in seiner ethischen Wertigkeit macht. Die Geburt wechselt nur den "Wohnort".
Richtig. Es ist ein fortschreitender Prozess der Entwicklung. Ein Fötus ist genausoviel "wert" drei Tage vor wie drei Tage nach der Geburt. Das heißt nicht, dass es im Alter von 3 Wochen genausoviel wert ist. In einem graduellen Vorgang unterscheidet sich der Anfangs- von dem Endpunkt trotzdem eklatant, wie jeder weiß, der in einem Zeitraum von 10 Jahren zunehmend seine Kopfhaare verloren hat.
Damit ist aber gesagt, dass es mehr oder weniger wertvolle Menschen gebe - eine Nazi-Ideologie. Jeder Mensch ist gleich viel wert - in absoluter Form.
Auch das ist eine Nebelkerze. Denn diese Denkweise bezieht sich ausdrücklich nur auf Menschen und setzt mithin voraus, dass die DNA eines Menschen irgendwie "besonders" ist. Niemand hat offensichtlich damit ein Problem, eine Spinne zu töten oder eine Blume zu pflücken, obwohl man damit "Leben" vernichtet. Wo ist der Unterschied? Diese Einstellung läuft darauf hinaus, dass das Vorhandensein eines Chromosomensatzes, den Wissenschaftler nach dem im Moment zufällig vorhandenen Stand der Katalogisierung der aktuell "Homo Sapiens" genannten Spezies zuordnen, einem plötzlich einen ungeahnten ethischen Vorsprung gegenüber allen Millionen von Wesen mit anderen genetischen Anlagen verschafft. Diese Ansicht ist anders als religiös kaum zu erklären und knüpft an ein rein biologisches Merkmal an. Danach müsste man, wenn man einen Neanderthaler oder gar einen besonders hochbegabten Schimpansen vor sich hätte, ihnen diesen besonderen Schutz verweigern, weil sie - Pech gehabt - nicht zu unserer Spezies zählen. Ethik schützt Interessen, Präferenzen, Gefühle, Wünsche - sie schützt keine Gen-Kombinationen. Deshalb ist eine Unterscheidung zwischen "Sklaven-" und "Herrenmenschen" Unsinn, die Unterscheidung zwischen einem Wesen mit und einem ohne (oder nur mit einem primitiven) Gehirn aber richtig. Die Ansicht, die Menschen allein aufgrund des irrelevanten Kriteriums ihrer DNA-Zusammensetzung besonders qualifiziert, wird Speziesismus genannt und ist ethisch auf derselben Stufe mit Sexismus und Rassismus.
Ein Embryo mag zwar noch kein ausgebildetes Gehirn haben. Aber er hat das Potential, zukünftig eins zu bekommen. Die Abtreibung nähme ihm daher diese Möglichkeit weg!
Dieses beliebte Argument passt erstens tatsächlich nur auf die Schwangerschaft, nicht aber auf künstlich erzeugte Embryos im Reagenzglas. Diese haben nicht das geringste Potential, ohne aufwendiges menschliches Zutun irgendwas zu werden. Zweitens gibt es keinen Grundsatz, wonach ein Potential mich bereits jetzt in die Rechtsposition versetzt, die ich später haben werde. Ich werde später Rentner sein, habe jetzt aber noch keinen Anspruch auf Rentenzahlung. Drittens ist dieses Argument nach hinten grundsätzlich offen: Wenn das Spermium an die Eizelle andockt, wenn das Spermium zur Eizelle schwimmt, ja sogar wenn Mann und Frau beschließen Sex zu haben - all das hat, rein kausal gedacht, ein "Potential" zur Entstehung des neuen menschlichen Wesens. Konsequent zu Ende reflektiert, ließe sich daraus sogar eine allgemeine Bürgerpflicht zum Geschlechtsverkehr konstruieren, damit man das in uns allen innewohnende Potential zur Schaffung von Babies nicht vereitle.
Die Frau hat das alleinige Recht zu entscheiden, was mit ihrem Körper passiert.
Es geht aber nicht immer nur um ihren Körper, sondern - ab einem gewissen Zeitpunkt an, s.o. - um einen weiteren Organismus oder sogar um ein weiteres Wesen mit rudimentärem Bewusstsein, das berücksichtigt werden muss. Dieses hat nach dem oben Gesagten aber einen geringeren moralischen Status und verliert in der Abwägung der Interessen daher meistens.
Niemand hat nicht das Recht, sich monatelang des Körpers eines Anderen zu bedienen ohne dessen Zustimmung.
Dieser in der Form des Geiger-Arguments berühmt gewordene Einwand ist im Grunde überzeugend. Egal wie schlecht es mir geht - ich kann nicht im Ernst verlangen, dass ein anderer seinen Körper für meine Zwecke hingibt. Der Gedanke funktioniert natürlich nur dann, wenn die Frau nicht selbst wissentlich die Gefahr einer Schwangerschaft gesetzt hat - also nur in den Fällen einer Vergewaltigung. In allen anderen Fällen besteht zwischen ihr und dem Ungeborenen ein besonderes Schutzverhältnis - im Grunde so wie wenn man einem Haustier gegenüber weiter gehende Pflichten hat als gegenüber einem Straßenhund.
Und nu? Was schlägst Du vor als Richtlinie?
Nach dem oben Gesagten dieses: Im Falle einer Vergewaltigung gibt es keinen Grund, der Frau die Prozedur zu verweigern. Im Übrigen gilt - soweit die befruchtete Eizelle überhaupt zu einem primitiven Organismus und dann zu einem Wesen mit zunehmendem mentalem Leben gereift ist, wächst auch ihr moralischer Wert in der Abwägung mit den Interessen der Mutter. Entscheidend sind dabei geistige Fähigkeiten wie Schmerzempfinden, Bewusstsein und das Spüren von Lust und Leid. Je älter das ungeborene Kind wird, um so eher nähert es sich in der ethischen Bewertung einem höheren Wirbeltier - und wie das Tier hat es auch eigene schützenswerte Interessen, die mit den Interessen der Mutter abgewogen werden müssten. Einen 5 Monate alten Fötus abzutreiben, allein um aus kosmetischen Erwägungen Schwangerschaftsstreifen zu vermeiden, wäre daher moralisches Unrecht. Wie ein erwachsener Mensch mit dem üblichen reichen inneren Leben kann er aber keinesfalls behandelt werden - in diesem Sinne ist Größe also doch manchmal entscheidend.
Mit der Verschmelzung von Eizelle und Spermium entsteht ein neues Leben. Ein Menschenleben ist aber schützenswert unabhängig von der Körpergröße und Entwicklungsstadium.
Das ist eine plakative Nebelkerze. Unklar ist nämlich, was hier mit dem Begriff "Leben" gemeint ist. Ein Individuum im Sinne von "einem von uns" bestimmt nicht, denn a) die frisch befruchtete Zelle kann sich in zwei oder mehr Embryonen teilen, b) zwei können verschmelzen, c) ein Teil der ersten Generation der Zellen wird gar nicht zum zukünftigen Organismus gehören, sondern zur Plazenta, d) aus dem Befruchtungsvorgang kann statt des Organismus ein Tumor entstehen usw. Wie ich hier schon einmal dargelegt habe, ist die Annahme verkehrt, wonach ich identisch bin mit der damals befruchteten Eizelle. Diese ist eine andere Entität, aus der "ich" dann erwachse. Was mit der Verschmelzung entsteht, ist eine Zelle mit einem DNA-Chromosomensatz, der vorher nicht existierte, mehr nicht. Diese wächst in den kommenden Tagen zu einem Gewebe mit Erbanlagen eines Homo Sapiens heran.
Ein neuer Mensch dagegen entsteht, wenn der Begriff überhaupt irgendeinen Sinn ergeben soll, erst dann wenn Ansätze von Organen und zumindest grundlegende Funktionen des Gehirns vorhanden sind, also einige Wochen später. Dann beginnt tatsächlich so etwas wie ein Lebewesen seine Existenz. Damit ist aber nicht gesagt, dass es denselben moralischen Status hat wie ein Erwachsener.
Ja, welchen Status hat es denn? Es gibt keine moralisch relevante Grenze, ab der das ungeborene Kind magisch einen Quantensprung in seiner ethischen Wertigkeit macht. Die Geburt wechselt nur den "Wohnort".
Richtig. Es ist ein fortschreitender Prozess der Entwicklung. Ein Fötus ist genausoviel "wert" drei Tage vor wie drei Tage nach der Geburt. Das heißt nicht, dass es im Alter von 3 Wochen genausoviel wert ist. In einem graduellen Vorgang unterscheidet sich der Anfangs- von dem Endpunkt trotzdem eklatant, wie jeder weiß, der in einem Zeitraum von 10 Jahren zunehmend seine Kopfhaare verloren hat.
Damit ist aber gesagt, dass es mehr oder weniger wertvolle Menschen gebe - eine Nazi-Ideologie. Jeder Mensch ist gleich viel wert - in absoluter Form.
Auch das ist eine Nebelkerze. Denn diese Denkweise bezieht sich ausdrücklich nur auf Menschen und setzt mithin voraus, dass die DNA eines Menschen irgendwie "besonders" ist. Niemand hat offensichtlich damit ein Problem, eine Spinne zu töten oder eine Blume zu pflücken, obwohl man damit "Leben" vernichtet. Wo ist der Unterschied? Diese Einstellung läuft darauf hinaus, dass das Vorhandensein eines Chromosomensatzes, den Wissenschaftler nach dem im Moment zufällig vorhandenen Stand der Katalogisierung der aktuell "Homo Sapiens" genannten Spezies zuordnen, einem plötzlich einen ungeahnten ethischen Vorsprung gegenüber allen Millionen von Wesen mit anderen genetischen Anlagen verschafft. Diese Ansicht ist anders als religiös kaum zu erklären und knüpft an ein rein biologisches Merkmal an. Danach müsste man, wenn man einen Neanderthaler oder gar einen besonders hochbegabten Schimpansen vor sich hätte, ihnen diesen besonderen Schutz verweigern, weil sie - Pech gehabt - nicht zu unserer Spezies zählen. Ethik schützt Interessen, Präferenzen, Gefühle, Wünsche - sie schützt keine Gen-Kombinationen. Deshalb ist eine Unterscheidung zwischen "Sklaven-" und "Herrenmenschen" Unsinn, die Unterscheidung zwischen einem Wesen mit und einem ohne (oder nur mit einem primitiven) Gehirn aber richtig. Die Ansicht, die Menschen allein aufgrund des irrelevanten Kriteriums ihrer DNA-Zusammensetzung besonders qualifiziert, wird Speziesismus genannt und ist ethisch auf derselben Stufe mit Sexismus und Rassismus.
Ein Embryo mag zwar noch kein ausgebildetes Gehirn haben. Aber er hat das Potential, zukünftig eins zu bekommen. Die Abtreibung nähme ihm daher diese Möglichkeit weg!
Dieses beliebte Argument passt erstens tatsächlich nur auf die Schwangerschaft, nicht aber auf künstlich erzeugte Embryos im Reagenzglas. Diese haben nicht das geringste Potential, ohne aufwendiges menschliches Zutun irgendwas zu werden. Zweitens gibt es keinen Grundsatz, wonach ein Potential mich bereits jetzt in die Rechtsposition versetzt, die ich später haben werde. Ich werde später Rentner sein, habe jetzt aber noch keinen Anspruch auf Rentenzahlung. Drittens ist dieses Argument nach hinten grundsätzlich offen: Wenn das Spermium an die Eizelle andockt, wenn das Spermium zur Eizelle schwimmt, ja sogar wenn Mann und Frau beschließen Sex zu haben - all das hat, rein kausal gedacht, ein "Potential" zur Entstehung des neuen menschlichen Wesens. Konsequent zu Ende reflektiert, ließe sich daraus sogar eine allgemeine Bürgerpflicht zum Geschlechtsverkehr konstruieren, damit man das in uns allen innewohnende Potential zur Schaffung von Babies nicht vereitle.
Die Frau hat das alleinige Recht zu entscheiden, was mit ihrem Körper passiert.
Es geht aber nicht immer nur um ihren Körper, sondern - ab einem gewissen Zeitpunkt an, s.o. - um einen weiteren Organismus oder sogar um ein weiteres Wesen mit rudimentärem Bewusstsein, das berücksichtigt werden muss. Dieses hat nach dem oben Gesagten aber einen geringeren moralischen Status und verliert in der Abwägung der Interessen daher meistens.
Niemand hat nicht das Recht, sich monatelang des Körpers eines Anderen zu bedienen ohne dessen Zustimmung.
Dieser in der Form des Geiger-Arguments berühmt gewordene Einwand ist im Grunde überzeugend. Egal wie schlecht es mir geht - ich kann nicht im Ernst verlangen, dass ein anderer seinen Körper für meine Zwecke hingibt. Der Gedanke funktioniert natürlich nur dann, wenn die Frau nicht selbst wissentlich die Gefahr einer Schwangerschaft gesetzt hat - also nur in den Fällen einer Vergewaltigung. In allen anderen Fällen besteht zwischen ihr und dem Ungeborenen ein besonderes Schutzverhältnis - im Grunde so wie wenn man einem Haustier gegenüber weiter gehende Pflichten hat als gegenüber einem Straßenhund.
Und nu? Was schlägst Du vor als Richtlinie?
Nach dem oben Gesagten dieses: Im Falle einer Vergewaltigung gibt es keinen Grund, der Frau die Prozedur zu verweigern. Im Übrigen gilt - soweit die befruchtete Eizelle überhaupt zu einem primitiven Organismus und dann zu einem Wesen mit zunehmendem mentalem Leben gereift ist, wächst auch ihr moralischer Wert in der Abwägung mit den Interessen der Mutter. Entscheidend sind dabei geistige Fähigkeiten wie Schmerzempfinden, Bewusstsein und das Spüren von Lust und Leid. Je älter das ungeborene Kind wird, um so eher nähert es sich in der ethischen Bewertung einem höheren Wirbeltier - und wie das Tier hat es auch eigene schützenswerte Interessen, die mit den Interessen der Mutter abgewogen werden müssten. Einen 5 Monate alten Fötus abzutreiben, allein um aus kosmetischen Erwägungen Schwangerschaftsstreifen zu vermeiden, wäre daher moralisches Unrecht. Wie ein erwachsener Mensch mit dem üblichen reichen inneren Leben kann er aber keinesfalls behandelt werden - in diesem Sinne ist Größe also doch manchmal entscheidend.
Sonntag, 26. Mai 2013
Die Sache mit dem Schnitt
Im Mai 2012 urteilte ein Kölner Gericht, Eltern dürften ihre Söhne nicht beschneiden, bevor diese nicht alt genug wären, selbst zu entscheiden. Daraufhin erhob sich ein Tornado der Entrüstung seitens vieler jüdischer und muslimischer Organisationen. Verständnis- und Ratlosigkeit machten sich breit, hat diese jahrtausendealte Praxis doch bisher so gut wie keinen öffentlichen Widerspruch erfahren. Während der Publizist Rafael Seligmann das Urteil abwertend als "Provinzposse" bezeichnete, fragten andere, ob Juden in Deutschland noch gewollt seien, und erspähten darin gar den schwersten Angriff auf jüdisches Leben in Deutschland seit dem Holocaust. Auf der anderen Seite sprachen einige wiederum von "barbarischen" Praktiken und einer "Genitalverstümmelung", die eine Beschneidung ja darstelle.
All diese Kraftausdrücke sind natürlich verfehlt. Wie in jeder politischen Diskussion, die ethische Aspekte beinhaltet, sind vielen Sprechern und Schreibern recht schnell alle Sicherungen durchgebrannt, und die Stimmung heizte sich rasch auf. Einerseits ist die Beschneidung von Jungen keine Verstümmelung, und es gibt mit Sicherheit schwerer wiegende Eingriffe in das Kindeswohl, derer sich die Gemeinschaft dringend annehmen müsste. Trotzdem ist sie ethisch verkehrt, und dies ist ein recht eindeutiger Befund. Entwirren wir also das Knäuel emotional aufgeladener Argumente und denken sachlich:
Am Anfang steht die intuitive Erkenntnis, dass in einem geordneten Gemeinwesen niemand einem anderen ungefragt Körperteile abschneiden darf. Darauf können wir uns alle, denke ich, einigen. Andererseits gilt dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt: Einem schwer verletzten Bewusstlosen darf ein Chirurg beispielsweise ein Bein amputieren, ohne ihn zu fragen, wenn es dringend ist. Einen Geiselnehmer darf die Polizei verletzen, wenn er das Leben anderer bedroht. Wir müssen uns also fragen, ob es Rechtfertigungen für diesen Eingriff gibt.
Klar dürfte sofort sein, dass die Religionsfreiheit hier nicht weiterhilft. Meine Religion darf möglicherweise in Saudi-Arabien oder in Pakistan ein Grund sein, den Körper anderer Personen, die diese Religion nicht teilen, zu verletzen. In einer freiheitlichen Gesellschaft geht das nicht: "In einem freien Land", zitiert Prof. Reinhard Merkel ein amerikanisches Sprichwort, "endet das Recht, deinen Arm zu schwingen, dort, wo die Nase des Anderen beginnt." Ich darf meine Religion ausüben, wie ich will, muss aber Andere davon verschont lassen.
Schwieriger wird es mit dem elterlichen Erziehungsrecht. Eltern dürfen und müssen ihre Kinder erziehen und für sie sorgen. Daher dürfen sie ihrem Kind im Prinzip auch mehr antun, als ein Erwachsener einem anderen Erwachsenen antun dürfte. Aber - und hier fangen schon die Missverständnisse an - Kinder sind eben kein "Eigentum" der Eltern, mit dem sie machen können, was sie wollen. Das Erziehungsrecht ist keine gottgleiche Befugnis. Die Eltern dürfen dem Kind im Rahmen des "Erziehungsrechts" nicht den Kopf kahl rasieren, nur weil sie gerade darauf Lust haben. Das Erziehungsrecht dient einzig und allein dem Kind - und der Staat hält sich aus der Erziehung im Regelfall nur deshalb heraus, weil die Eltern das Kind besser kennen - nicht aber weil das Kind ihr "Spielzeug" ist, mit dem sie nach Belieben umspringen dürfen. So wie ein Kassenwart eines Vereins die Finanzen verwaltet, verwalten sie die Interessen ihres Kindes - und so wie es dem Kassenwart verboten ist, Unfug mit den ihm anvertrauten Ressourcen zu treiben, ist es den Eltern genauso verboten. Ein Kind ist eben keine Puppe, sondern ein vollwertiger Mensch in Mini-Version.
Und was ist nun mit der Beschneidung? Sie muss nach dem oben Gesagten dem Kindeswohl dienen. Die Eltern können nicht einfach sagen "Wir machen es halt", sondern sie müssen begründen, warum die Prozedur dem Kind gut tut. Da der Schnitt weh tut, Komplikationen nach sich ziehen kann und - was das Wichtigste ist - einen großen Anteil (bis zu 20.000 erogene Nervenendungen) des sexuell empfindlichen Gewebes wegtrennt und damit das sexuelle Erleben nachhaltig und unwiderruflich beeinträchtigt (auch bei Frauen), ist der Eingriff von einiger Relevanz und braucht eine Rechtfertigung.
Und insoweit können Eltern nur zwei Argumente vorbringen: Die Aufnahme der Kinder in die soziale Gemeinschaft und gesundheitliche Vorteile. Das erste Argument betrifft nur die wenigen streng religiösen Familien, die in einem Milieu leben, wo das Ritual tatsächlich zum Ausgrenzungskriterium werden kann. Die meisten beschneiden ihre Kinder aber nur aus Tradition, Trägheit oder "weil es sich halt so gehört". Außerdem ist es ja nicht so, dass Kinder einander dauernd in die Hose schauen, um die Zugehörigkeit zur eigenen Religion zu ergründen oder die Freundschaft zu überprüfen. Die gesundheitlichen Vorteile - das zweite Argument - wiederum mögen zwar statistisch belegbar sein. In dieser Richtung spricht sich auch die (weltweit umstrittene) Empfehlung der amerikanischen Ärzteorganisation AAP aus. Jedoch ist es ein sichtbarer Fehlschluss, sich (wie das "Beschneidungsgesetz" in seiner Begründung) auf diese Empfehlung zu stützen: Denn die Ärzte können nur sagen, ob aus medizinischer Sicht die Beschneidung sinnvoll ist, d.h. ob die Vorteile die Nachteile überwiegen. Ihre Frage ist also: Kann man die Beschneidung empfehlen, wenn jemand sie machen will? Wir müssen uns aber bei der Lösung des ethischen Dilemmas etwas völlig Anderes fragen: Da die Prozedur ein wehrloses nicht einwilligungsfähiges Kind betrifft, muss sie denn unbedingt sein oder reichen mildere Maßnahmen, um denselben Nutzen zu erzielen? Und die Antwort ist ganz klar: Sie muss nicht sein. Denn alle Vorteile kann man durch simple Hygiene bzw. das Benutzen von Kondomen genauso gut erreichen. Die angeblichen Segen der Beschneidung werden "zu teuer erkauft". Genau wie der Kassenwart die Ressourcen seines Vereins (auch zu einem guten Zweck) nicht sinnlos verschleudern darf, dürfen es die Eltern als Wächter des Kindeswohls ebenfalls nicht. Sie sind ethisch verpflichtet, ein möglichst mildes Mittel zu wählen, da das Kind vollkommen in ihrer Gewalt ist.
So viel (und nicht mehr) ist zur ethischen Bewertung der Zwangsbeschneidung von Kindern zu sagen. Sie ist schlicht unzulässig, und genauso makelbehaftet ist daher das hastig zusammengezimmerte Gesetz.
All diese Kraftausdrücke sind natürlich verfehlt. Wie in jeder politischen Diskussion, die ethische Aspekte beinhaltet, sind vielen Sprechern und Schreibern recht schnell alle Sicherungen durchgebrannt, und die Stimmung heizte sich rasch auf. Einerseits ist die Beschneidung von Jungen keine Verstümmelung, und es gibt mit Sicherheit schwerer wiegende Eingriffe in das Kindeswohl, derer sich die Gemeinschaft dringend annehmen müsste. Trotzdem ist sie ethisch verkehrt, und dies ist ein recht eindeutiger Befund. Entwirren wir also das Knäuel emotional aufgeladener Argumente und denken sachlich:
Am Anfang steht die intuitive Erkenntnis, dass in einem geordneten Gemeinwesen niemand einem anderen ungefragt Körperteile abschneiden darf. Darauf können wir uns alle, denke ich, einigen. Andererseits gilt dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt: Einem schwer verletzten Bewusstlosen darf ein Chirurg beispielsweise ein Bein amputieren, ohne ihn zu fragen, wenn es dringend ist. Einen Geiselnehmer darf die Polizei verletzen, wenn er das Leben anderer bedroht. Wir müssen uns also fragen, ob es Rechtfertigungen für diesen Eingriff gibt.
Klar dürfte sofort sein, dass die Religionsfreiheit hier nicht weiterhilft. Meine Religion darf möglicherweise in Saudi-Arabien oder in Pakistan ein Grund sein, den Körper anderer Personen, die diese Religion nicht teilen, zu verletzen. In einer freiheitlichen Gesellschaft geht das nicht: "In einem freien Land", zitiert Prof. Reinhard Merkel ein amerikanisches Sprichwort, "endet das Recht, deinen Arm zu schwingen, dort, wo die Nase des Anderen beginnt." Ich darf meine Religion ausüben, wie ich will, muss aber Andere davon verschont lassen.
Schwieriger wird es mit dem elterlichen Erziehungsrecht. Eltern dürfen und müssen ihre Kinder erziehen und für sie sorgen. Daher dürfen sie ihrem Kind im Prinzip auch mehr antun, als ein Erwachsener einem anderen Erwachsenen antun dürfte. Aber - und hier fangen schon die Missverständnisse an - Kinder sind eben kein "Eigentum" der Eltern, mit dem sie machen können, was sie wollen. Das Erziehungsrecht ist keine gottgleiche Befugnis. Die Eltern dürfen dem Kind im Rahmen des "Erziehungsrechts" nicht den Kopf kahl rasieren, nur weil sie gerade darauf Lust haben. Das Erziehungsrecht dient einzig und allein dem Kind - und der Staat hält sich aus der Erziehung im Regelfall nur deshalb heraus, weil die Eltern das Kind besser kennen - nicht aber weil das Kind ihr "Spielzeug" ist, mit dem sie nach Belieben umspringen dürfen. So wie ein Kassenwart eines Vereins die Finanzen verwaltet, verwalten sie die Interessen ihres Kindes - und so wie es dem Kassenwart verboten ist, Unfug mit den ihm anvertrauten Ressourcen zu treiben, ist es den Eltern genauso verboten. Ein Kind ist eben keine Puppe, sondern ein vollwertiger Mensch in Mini-Version.
Und was ist nun mit der Beschneidung? Sie muss nach dem oben Gesagten dem Kindeswohl dienen. Die Eltern können nicht einfach sagen "Wir machen es halt", sondern sie müssen begründen, warum die Prozedur dem Kind gut tut. Da der Schnitt weh tut, Komplikationen nach sich ziehen kann und - was das Wichtigste ist - einen großen Anteil (bis zu 20.000 erogene Nervenendungen) des sexuell empfindlichen Gewebes wegtrennt und damit das sexuelle Erleben nachhaltig und unwiderruflich beeinträchtigt (auch bei Frauen), ist der Eingriff von einiger Relevanz und braucht eine Rechtfertigung.
Und insoweit können Eltern nur zwei Argumente vorbringen: Die Aufnahme der Kinder in die soziale Gemeinschaft und gesundheitliche Vorteile. Das erste Argument betrifft nur die wenigen streng religiösen Familien, die in einem Milieu leben, wo das Ritual tatsächlich zum Ausgrenzungskriterium werden kann. Die meisten beschneiden ihre Kinder aber nur aus Tradition, Trägheit oder "weil es sich halt so gehört". Außerdem ist es ja nicht so, dass Kinder einander dauernd in die Hose schauen, um die Zugehörigkeit zur eigenen Religion zu ergründen oder die Freundschaft zu überprüfen. Die gesundheitlichen Vorteile - das zweite Argument - wiederum mögen zwar statistisch belegbar sein. In dieser Richtung spricht sich auch die (weltweit umstrittene) Empfehlung der amerikanischen Ärzteorganisation AAP aus. Jedoch ist es ein sichtbarer Fehlschluss, sich (wie das "Beschneidungsgesetz" in seiner Begründung) auf diese Empfehlung zu stützen: Denn die Ärzte können nur sagen, ob aus medizinischer Sicht die Beschneidung sinnvoll ist, d.h. ob die Vorteile die Nachteile überwiegen. Ihre Frage ist also: Kann man die Beschneidung empfehlen, wenn jemand sie machen will? Wir müssen uns aber bei der Lösung des ethischen Dilemmas etwas völlig Anderes fragen: Da die Prozedur ein wehrloses nicht einwilligungsfähiges Kind betrifft, muss sie denn unbedingt sein oder reichen mildere Maßnahmen, um denselben Nutzen zu erzielen? Und die Antwort ist ganz klar: Sie muss nicht sein. Denn alle Vorteile kann man durch simple Hygiene bzw. das Benutzen von Kondomen genauso gut erreichen. Die angeblichen Segen der Beschneidung werden "zu teuer erkauft". Genau wie der Kassenwart die Ressourcen seines Vereins (auch zu einem guten Zweck) nicht sinnlos verschleudern darf, dürfen es die Eltern als Wächter des Kindeswohls ebenfalls nicht. Sie sind ethisch verpflichtet, ein möglichst mildes Mittel zu wählen, da das Kind vollkommen in ihrer Gewalt ist.
So viel (und nicht mehr) ist zur ethischen Bewertung der Zwangsbeschneidung von Kindern zu sagen. Sie ist schlicht unzulässig, und genauso makelbehaftet ist daher das hastig zusammengezimmerte Gesetz.
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