Die heutigen Versionen des Christentums und Judentums sind im Vergleich zu ihrem barbarischen und gewalttätigen Ursprung schon viel zahmer geworden; auch der Islam zeigt im Laufe der letzten Zeit vorsichtige Anzeichen für Öffnung und Liberalisierung. Die großen Religionen haben im Laufe der Jahrtausende insgesamt einen mehr oder weniger deutlichen Wandel durchgemacht. Nimmt man einen durchschnittlichen Pfarrer von nebenan und vergleicht seine Ansichten mit den religiösen Schriften Gläubiger aus dem 4. Jahrhundert, so wird sein Christentum uns offen, tolerant, weich und zuweilen sogar ein bisschen weise entgegentreten.
Wie sind diese Veränderungen zustandegekommen? Hat so eine Offenbarungsreligion die innere Kraft, das Potenzial, aus sich heraus durch Deutung der Heiligen Schriften mit der Zeit besser und fortschrittlicher zu werden, wenn man nur tief und lange genug darüber nachdenkt? So ist zumindest die Position der heutigen Religionsvertreter: Zeigt man ihnen auf die barbarischen Stellen in der Bibel oder der Torah, dann sagen sie, dass man diese Stellen eben durch Auslegung weginterpretieren müsse, so dass am Ende nur das reine Gebot der Liebe und der Hilfe für Bedürftige, die Sinngebung für das Leben und die Menschenwürde verbleiben - eben das, was ein durchschnittlicher aufgeklärter Christ von heute noch an Positionen vertritt. Daher gebe es keinen inhärenten, eingebauten "Fehler" im System, sondern man finde, wenn man nur tief und lange genug darüber sinniert, den "wahren" Gehalt, die "wirkliche" Aussage der jeweiligen Religion. Ehebrecherinnen steinigen - welcher Theologe vertritt heutzutage noch solche Meinungen? Niemand!
Halt.
Hat da jemand gerade "Auslegung" gesagt?
Wer weiß denn besser, wie man Texte auslegt, als die Juristen? Fragen wir sie doch mal, und wir werden sehen, dass eine Religion sich nur von außen, aber nie von innen verändern kann.
Ein Gesetz auslegen bedeutet, den Willen des Gesetzgebers ergründen, fragen, was er denn im Sinne führte, als er das Gesetz schuf. Man schaut dazu in die Gesetzesbegründung, man vergleicht das Gesetz mit ähnlichen Gesetzen, man richtet sich nach dem, was in diesem Fall die Verfassung erlaubt, usw. Niemals ist ein Gesetz allein aus sich heraus auszulegen - denn wenn es so klar formuliert ist, dass keine Zweifel verbleiben, dann braucht man ja gar keine Auslegung. Um zweifelhafte Stellen zu deuten, braucht man also immer eine Referenz von außen: andere Gesetze, parlamentarische Protokolle usw. Der Wortlaut selbst reicht nur in den seltensten - einfachsten - Fällen.
--> Wenn es im Gesetz also etwa heißt: "Verbrecher sollen bestraft werden", die Verfassung (als externe Quelle) aber andererseits die Todesstrafe ausschließt, dann ist dieses Gesetz so auszulegen, dass Verbrecher eben mit allen Strafen außer der Todesstrafe bestraft werden sollen. Ganz einfach.
Was hat das nun mit der Religion zu tun? - Nun ja, wo ist denn bei der Bibel, dem Koran, der Torah die "Referenz von außen"? Die weitere, ebenbürtige (also göttliche) externe Quelle, die uns sagen kann, welche Stellen in der Bibel wir befolgen sollen, und welche nicht? Die gibt es nicht. Die ganze Wissenschaft über die Auslegung ("Exegese") der "heiligen Schriften" ist ausschließlich auf eben diese Schriften angewiesen. Man kann daher, wenn man über eine nicht eindeutige Stelle nachdenkt, nicht kurz mal in eine andere "heilige Schrift" schauen und prüfen, ob dort zu diesem Problem irgendwelche Anweisungen stehen.
--> Wenn es in der Bibel also zunächst heißt: "Wenn ein Mann
dabei ertappt wird, wie er bei einer verheirateten
Frau liegt, dann sollen beide sterben" (Deuteronomium), andererseits aber "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!" (Johannes) - dann was? Welche Stelle ist wichtiger und warum? Soll man nun steinigen oder nicht?
Die ganze Theologie, wie kompliziert und elegant sie sich auch lesen mag, kocht sich selbst ausschließlich im eigenen Saft. Schlaue Menschen schauen in das Buch und überlegen aus dem Nichts heraus, aus reiner Inspiration und emotionaler Eingebung, wie die Stelle X zu verstehen ist, und ob man sie befolgen soll oder nicht. Ist der Auslegende ein anständiger Mensch und / oder lebt er in einer moralisch fortgeschrittenen Zeit, wird er mit einiger Wahrscheinlichkeit im obigen Beispiel die zweite Fundstelle vorziehen, während ein Sadist in der Herrschaftszeit barbarischer Wüstenclans die erste Alternative wählen wird - beide mit der Begründung, die Stelle durch "intensives Nachdenken" und "methodische Exegese" genau so auslegen zu müssen. So leid es mir tut, liebe Verfechter der These, dass Religionen sich angeblich selbst reformieren könnten - es stimmt einfach nicht. Ohne externe Quellen ist jedes Nachdenken über den "wahren" Inhalt der Bibel ein - um ein Zitat des Philosophen Daniel Dennett zu bemühen - "intellektueller Tennis ohne ein Netz".
Nun, aber warum sind dann die Religionen in der heutigen Form so viel sympathischer als damals? Von welcher externen Quelle kam denn der Wandel? Die Antwort ist einfach zu finden - der gesellschaftliche Zeitgeist, die Veränderungen im sozialen Gewebe. Je mehr man sich Menschenrechte und Toleranz erkämpft hat - desto offener wurden wundersamerweise die Glaubensgemeinschaften. Der Einfluss, den die Religionen seit jeher für sich beanspruchen - nämlich die Welt, die Gesellschaft zum Positiven zu verändern, ist genau anders herum. Die Deutung des göttlichen Gesetzes richtet sich nach dem Fortschritt der Menschen, nicht umgekehrt.
Mittwoch, 11. Dezember 2013
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